der hagere

(zero degrees // Mittwoch, 27. April 2005, 01:19)

der hagere hatte einen kubus gebaut, der in der mitte seines zimmers stand und fast den gesamten raum einnahm, in dem sich sonst die wege zwischen den vom hageren gewohnheitsmäßig besuchten orten des zimmers gekreuzt hatten: der gang vom harten bett zur tür, von der tür zum fenster auf die schmale gasse, vom fenster zum schreibtisch mit den stapeln von plänen, skizzen, berechnungen, arbeitsnotizen, vom schreibtisch hinüber zum bücherregal, von dort der gang zum bett. doch jetzt versperrte der kubus den weg, mitten auf dem gaschgai plaziert.

er war vielleicht von einem meter kantenlänge - das reichte aus, um die logistik des raums empfindlich zu stören. die alten wege hatten neu gelernt werden müssen, nun bögen, kurven ziehend um den kubus, der in der zimmermitte eher haarbreit über dem boden zu schweben schien, als wirklich auf ihm zu ruhen. tatsächlich war so einiges am kubus mehr als seltsam, das gab auch der hagere gern zu. nichtsdestoweniger bestand er darauf, zeigte ein etwaiger besucher sich ungläubig und fragte zum wiederholten male nach, daß er es gewesen sei, der ihn gebaut. "ich und nur ich mit diesen selben händen," pflegte er dann mit nachdruck zu sagen und beide handflächen dem blick des gegenübers wie zur überprüfung darzubieten.

der kubus hatte nicht eigentlich kanten und auch über seiten verfügte er nicht, eher wurde seine form gebildet von einem durchbrochenen gitter, dessen teile (oder reste) eine kraft an ort und stelle hielt, deren quelle zuerst nicht auszumachen war. weiße stifte aus kunststoff, sieben zentimeter lang und mit quadratischem querschnitt (14 mm dessen diagonale), markierten kreuzungen, die die form des kubus beschrieben: ein mal drei stifte rechtwinklig aufeinanderstehend an jeder der acht ecken, zwei mal vier, kreuzförmig angeordnet, an jeder kante und vier mal vier innerhalb jeder der seitenflächen. auf jeder seite waren so neun kleinere quadrate angedeutet, deren kanten aber, wie sich ersehen läßt, zum großteil aus gleich großen lücken bestanden.

die scheinbar in der luft schwebenden stiftverbindungen, die den betrachter einen kubus sehen ließen, waren aber nicht das irritierendste an ihm. denn im inneren bereich, in dem raum, den er abzugrenzen vorgab, befand sich noch etwas. der hagere nannte es seinen "blinden fleck", er hatte mehrmals zu verschiedenen personen gesagt, die ihn in der wohnung aufgesucht hatten: "das ist mein blinder fleck". er sagte dies nie ohne einen stolzen unterton in der stimme, wann immer ihm ein besucher die freude bereitete, ihn danach zu fragen, ob da etwas sei, und wenn ja, was zum teufel es wäre.

man sah es nur aus den augenwinkeln, oder wenn man es schaffte, den blick unscharf zu stellen, als schaute man auf einen imaginären horizont. fokussierte man klar auf den kubus, sah man nichts, oder besser gesagt: man sah, was man so sieht, wenn man auf luft schaut. gelang es jedoch, die eigenen augen gewissermaßen davon zu überzeugen, daß sie dort nichts zu erwarten hatten, sondern vielmehr ganz woanders (was nicht einfach war, denn die fragliche zone schien den blick förmlich anzuziehen, als krümme er sich durch den raum zu ihr hin): dann war es da. und mit seinem anblick (doch es müßte wohl heißen: mit seinem abblick) befiel den betrachter unwiderruflich das starke gefühl, daß es lebte.





das ist stark! ohne den text zu diskreditieren: ich musste dabei unweigerlich an bernhards korrektur und an anderes denken. dort der stolz über den kegel als ideales wohnhaus, nach der umsetzung dann der tod des architekten. hier der stolz (des hageren), der kubus, das leben (in einer / dieser form). kein eigentlicher kubus (er hat ja "nicht eigentlich kanten", verfügt nicht einmal über seiten). er hat eigentlich nichts, was er haben müsste, um ein kubus zu sein. ein irgendwas, das im raum steht. ein odradek. sehr offen! auch stilistisch. auch geometrisch. stark.


hab, 27.04.05, 11:39



danke, das freut mich. es ist ein anriß für eine mögliche nächste theaterarbeit. die ganze räumlichkeit kommt vom theater, ich merke, wie mein schreiben in den letzten jahren von eher symbolischen landschaften (strände, flüsse, brücken) zu abstrakteren geometrien und bewegten und beweglichen körpern zieht.

topologien.

und dachte gestern nacht, schon im bett, daß die kanten des würfels eigentlich sogar fraktal sein müßten, von der mittleren lücke zu den markierten punkten hin zerstäubend und sich als staub in der kreuzung verdichtend. das wäre aber vermutlich zu abstrakt, weil nicht mehr praktisch konstruierbar.


isore, 27.04.05, 18:03



ich musste unweigerlich an jorge luis borges' aleph denken. vor allem die beschreibung, wie der "blinde fleck" gesehen werden kann, erinnerte mich sehr an die anweisungen, die der ich-erzähler in borges' erzählung erhält.

und doch liegen welten (sowohl in sprache als auch inhalt) zwischen borges' "aleph" und ihrem "der hagere". ein einnehmender text. toll!


markus a. hediger, 28.04.05, 08:35



das odradek hab ich gestern noch gefunden, das aleph muß ich mir noch besorgen. schön, wenn sich die lektüre so leiten lassen kann.

die geschichte ließe sich wohl weitererzählen. ich könnte versuchen zu beschreiben, wie sich das verhalten des hageren allmählich veränderte, bis ihn bald niemand mehr besuchte in seinem zimmer. oder wie sie ihn schließlich fanden, hingestreckt auf den boden, den zeigefinger der rechten hand nahe der zimmermitte in dem haufen aus plastikstäbchen liegend, die anscheinend einfach zu boden gefallen waren, und er mit diesem ausdruck von erstaunen im gesicht. und bemerken, daß man bei der autopsie feststellte, daß ihm unter einer narbe im nacken ein halswirkel fehlte, der dritte von oben.

doch das wäre schon zuviel des guten.


isore, 28.04.05, 10:58

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