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(quelle) Roland Barthes: Ich lebe in einer Gesellschaft von Sendern (ich bin selber einer davon): jede Person, der ich begegne oder die mir schreibt, lässt mir ein Buch zukommen, einen Text, ein Schlussergebnis, einen Prospekt, ein Protestschreiben, eine Einladung zu einer Aufführung, zu einer Ausstellung, usw. Die Wollust zu schreiben, zu produzieren, drängt sich von allen Seiten heran; doch da der Umlauf vom Geschäft bestimmt ist, bleibt die freie Produktion verstopft, verwirrt und gleichsam ausser sich; meistens bewegen sich die Texte, die Aufführungen dahin, wo nicht nach ihnen gefragt wird; sie begegnen zu ihrem Unglück "Beziehungen", nicht Freunden und noch weniger Partnern; was zur Folge hat, dass diese Art kollektiver Ejakulation der Schreibweise, in der man die utopische Szene einer freien Gesellschaft sehen könnte (in der die Wollust zirkuliert, ohne ihren Weg über das Geld zu nehmen), heute die Züge der Apokalypse annimmt. Gilles Deleuze: Man muss schnell sein. Zehn Jahre, um eine Kultur aufzunehmen, zwanzig, um sie wieder loszuwerden und auszukotzen (das dauert immer länger). Nur das zählt, was den gesamten Zyklus des symbolischen Mordes der Kultur durchläuft. Roland Barthes: Ich möchte um das ein wenig klarzustellen eine Unterscheidung zwischen zwei Text-Typen vornehmen: Erstens: der "Text der Lust": der befriedigt, erfüllt, Euphorie erregt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, an eine behagliche Praxis der Lektüre gebunden ist. Zweitens: der "Text der Wollust": der in den Zustand des Sichverlierens versetzt, der Unbehagen erregt (vielleicht bis hin zu einer gewissen Langeweile), die historischen, kulturellen, psychologischen Grundlagen des Lesers, die Beständigkeit seiner Vorlieben, seiner Werte und seiner Erinnerungen erschüttert, sein Verhältnis zur Sprache in eine Krise bringt. Hier haben wir also "das Anrennen gegen die Grenzen der Sprache" und den unlesbaren Roman - im Supermarkt der Bücher besser bekannt als "der experimentelle Roman". Raymond Federman: Wir wollen uns nichts vormachen, die Wirklichkeit als solche hat nie wirklich irgend jemanden interessiert; sie ist eine Form der Ernüchterung und war es immer. Was die Realität manchmal so faszinierend erscheinen lässt, ist die imaginäre Katastrophe, die sich dahinter verbirgt. Der Schriftsteller weiss dies und schlachtet das aus. Die Selbst-Reflexivität eines Textes befreit die Sprache vom Illusionismus und sogar von der Fiktionalität selbst. Die Demontage ihrer Lügen. Gilles Deleuze: Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, in der es gemacht ist. Deshalb hat ein Buch auch kein Objekt. Als Gefüge besteht es selber nur in Verbindung mit anderen Gefügen, durch die Beziehung zu anderen organlosen Körpern. Ein Buch existiert nur durch das und in dem, was ihm äusserlich ist. Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern damit, Land - und auch Neuland - zu vermessen und zu kartographieren. Das Fragment ist kein bestimmter Stil und kein bestimmtes Scheitern, es ist die Form des Geschriebenen. Roland Barthes: Alles ist Sprache oder, genauer gesagt, die Sprache ist überall. Sie geht durch alles Wirkliche hindurch; es gibt kein Wirkliches ohne Sprache. Jede Einstellung, die sich hinter einer Nicht-Sprache oder einer vorgeblich neutralen oder unbedeutenden Sprache vor der Sprache in Sicherheit bringen will, ist eine unredliche Einstellung. Die einzig mögliche Subversion auf dem Gebiet der Sprache besteht darin, die Dinge zu verschieben. Gilles Deleuze: Man schreibt im Hinblick auf eine bevorstehende Ausfahrt - die noch keine Sprache hat. Schaffen heisst nicht kommunizieren, sondern widerstehen. Roland Barthes: Wir sind konditioniert, Literatur nach einem gewissen Lektürerhythmus zu lesen: man müsste wissen, ob man durch einen Wechsel im Lektürerhythmus Veränderungen im Verständnis erzielte, ob Dinge, die völlig undurchsichtig scheinen, durch schnelleres oder langsameres Lesen sonnenklar werden könnten. Zum Beispiel gibt es auch - ich nenne hier nun technische Lektüreprobleme - das Problem der Konditionierung für die Entwicklung, den Ablauf der erzählten Geschichte, deren Wiederholung wir nicht ertragen. Es ist übrigens ziemlich paradox, dass sich unsere endoxale Zivilisation als eine Massenzivilisation, die in einer Welt von Stereotypen und Wiederholungen lebt und in sie verstrickt ist, mit so grossen Worten gegen jeden Text, der sich zu wiederholen oder Wiederholungen zu enthalten scheint, für absolut allergisch erklärt. Man müsste versuchen, den Lesern nahezubringen, dass es mehrere mögliche Arten der Lektüre gibt und dass man nicht verpflichtet ist, ein Buch in einem linearen und kontinuierlichen Ablauf zu lesen; nichts verpflichtet dazu vom Anfang bis zum Ende zu lesen, doch die Leute gestehen sich das nicht ein. Gilles Deleuze: Es gibt zwei Arten, ein Buch zu lesen: Entweder man betrachtet es als Schachtel, die auf ein Innen verweist, und man sucht also seine Signifikate und macht sich daran, wenn man noch perverser oder korrumpierter ist, auf die Suche nach dem Signifikanten. Auch das nächste Buch behandelt man wie eine Schachtel, die in der vorhergehenden enthalten ist oder sie ihrerseits enthält. Und man kommentiert, interpretiert, verlangt Erklärungen; man schreibt das Buch des Buches, bis ins Unendliche. Oder aber man liest auf die andere Art: Man nimmt das Buch als kleine asignifikante Maschine. Das einzige Problem ist, ob und wie sie funktioniert. Wie funktioniert sie für Euch? Wenn sie nicht funktioniert, wenn nichts passiert, muss man zu einem anderen Buch greifen. Jene andere Lektüre ist intensiv. Entweder kommt was rüber oder nicht, passiert etwas oder passiert nichts. Es gibt nichts zu erklären, zu verstehen, zu interpretieren. Wie bei elektrischen Schaltungen. Für die Dekonstruktion ist Lesen nicht ein einfacher Prozess des Entzifferns, noch des Interpretierens. Sie ist weder völlig respektvoll noch einfach gewalttätig. "Sicheres Erzeugen von Unsicherheit" wie Derrida sagt. Lesen wird nicht von einem Subjekt gegen ein Textobjekt vollzogen: Lesen ist im Text, den es liest, impliziert. Hinterlass eine Spur im Text, wenn Du kannst. Raymond Federman: Lesen ist demnach das Schritt für Schritt vermessen, nachvollziehen, oder "begehen" des Raums der Textualität. Die Welt als "Mnemothek". Gilles Deleuze: Es ist die Macht die sich irrt, und wir, wir alle (Gegenstände und Lebewesen), Kreaturen dieser Macht, haben die Last dieser Irrtümer zu tragen, da wir deren Konsequenzen auf uns nehmen müssen, denn letzten Endes sind wir eigentlich diese Irrtümer. |