brecht - wer braucht eine weltanschauung?


Es heißt Denken defaitistisch auffassen, wenn man ihm jeden tieferen Einfluß nimmt. Um ihm den Einfluß zu gewähren – vom Denken zu verlangen, daß es Einfluß ausübt: bedeutet einen Anspruch an das Denken stellen –, muß man natürlich verzichten auf eine Vorstellung, die einen Leonardo, dem die Arme fehlen, dennoch malen läßt. Die Vorstellung, daß den geknebelt in einem Erdloch bei dem Gewürm Angeschmiedeten nichts hindern könne, wenigstens zu denken, was ihm beliebe, mag jene trösten, die im Angeschmiedetsein ein unveränderliches Schicksal sehen. In Wirklichkeit denkt der von der Wirtschaft Geknebelte aber nur dann frei, wenn er sich in Gedanken befreit, und zwar von der Wirtschaft. Und dies kann er nur, wenn sein Denken die Wirtschaft verändert, also die Wirtschaft von sich abhängig macht, also von der Wirtschaft abhängt. Erkannt zu haben, daß das Denken was nützen müsse, ist die erste Stufe der Erkenntnis. Die Mehrheit derer, die diese Stufe erreicht haben, gibt angesichts der Unmöglichkeit, eingreifend zu denken, das Denken (das nur spielerische Denken) auf. Eingreifendes Denken ist nicht nur in Wirtschaft eingreifendes Denken, sondern vor allem in Hinblick auf Wirtschaft im Denken eingreifendes Denken.






brecht - [der weg zu großem zeitgenössischem theater], 1930


Man muß sich klarmachen, daß die erbärmliche Angst dieser Epoche, man könnte an ihrer Originalität zweifeln, mit ihrem schäbigen Besitzbegriff zusammenhängt. Gerade ihre Originalität würde diesen Nuancen des Hochkapitalismus niemand bestreiten wollen, der immerhin dankbar dafür ist, daß die Menschheit "für gewöhnlich" doch anders ist.






brecht - radio: eine vorsintflutliche erfindung? (1927)


Ich wünsche sehr, daß diese Bourgeoisie zu ihrer Erfindung des Radios noch eine weitere Erfindung mache: eine, die es ermöglicht, das durch Radio Mitteilbare auch noch für alle Zeiten zu fixieren. Nachkommende Geschlechter hätten dann die Gelegenheit, staunend zu sehen, wie hier eine Kaste dadurch, daß sie es ermöglichte, das, was sie zu sagen hatte, dem ganzen Erdball zu sagen, es zugleich dem Erdball ermöglichte, zu sehen, daß sie nichts zu sagen hatte. Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.

a) schön, daß wir das internet haben und b) daß es, wenn alle gleichzeitig reden, keinen zuhörer mehr gibt, dem etwas auffallen könnte.






brecht - die sucht nach neuem (1926)


Saßen jemals etwa sechs Troglodyten auf einem Ast und fragten: "Wo bleibt das Kunstwerk?" Eher doch war es einer von ihnen, der eines Tages sagte: "Hier ist es", und sich Zuschauer suchte. Die Frage unserer Mitmenschen nach Neuem ist eine trügerische Sache. [...] In Wirklichkeit liegt da ein ungeheurer Haufen von Produktionsmitteln, der Abnehmer organisiert, aber keine Lieferanten mehr hat. Diese Haufen darf man nicht beliefern, man darf, soll der Kunst noch eine Chance bleiben, nicht einmal mehr an sie denken. Ihre Frage nach etwas Neuem ist nicht zu beantworten, sie wollen nichts Neues, sondern lediglich das Alte von neuem. Sie führen mit ihren Bestellungen völlig irre, sie sind nicht die Künder neuer Appetite, sondern alter Übersättigung.






brecht - wie soll man heute klassiker spielen? für den berliner börsen-courier, 25.12.1926


Es wurden Erfindungen gemacht, und ich denke, sie werden noch weiter Erfindungen machen. Aber es ist eine interessante Sache um die Erfindungen, die auf absteigenden Ästen gemacht werden. Leute auf absteigenden Ästen erfinden nämlich nur mehr Sägen. Sie mögen sich ausdenken, was sie wollen, am Schluß ist es doch immer eine Säge geworden, und sie mögen sich beherrschen, wie sie wollen, ihre geheime Lust ist zu übermächtig: plötzlich merken sie, sie haben wieder an ihrem Ast herumgesägt.






brecht - notiz aus dem fatzer-komplex (1930)


M wir haben gehört, daß es ohne gewalt geht L wer hat euch gesagt, daß es ohne gewalt geht? M die herrschende art hat uns gesagt, daß es ohne gewalt geht L woran also erkennt man die herrschende art? M daran erkennt man die herrschende art, daß sie sagt, daß es ohne gewalt geht






bert brecht - schriften 1914-1921, gba 21:49


So zu schreiben, daß möglichst wenige zu behaupten wagen, sie verstehen einen, ist keine Kunst.