(bretter // Dienstag, 10. Januar 2006, 16:07)

keine theaterform kapriziert sich scheinbar so sehr auf eine menschliche "innerlichkeit", wie das psychologische theater. sein gegenstand sind die feinen seelischen nuancen, die komplexen charaktere, die individuellen züge von persönlichkeiten. unter dem deckmantel der feier des menschlich einzigartigen praktiziert dieses theater in letzter konsequenz dessen vernichtung. ein (konstruiertes) vermeintliches innenleben wird dem diktat der sichtbarkeit unterworfen: was sich nicht zeigt, gibt es nicht - und was es nicht geben soll, darf sich auch nicht zeigen. noch die kleinste regung der figur soll an die oberfläche gehoben werden, während der schauspieler, gemäß dem ideal einer vollständigen "verwandlung", möglichst komplett in der zur natur erhobenen psycho-logik zum verschwinden gebracht wird. von der (küchen)psychologie übernimmt dieses theater den gestus der erklärbarkeit des menschlichen verhaltens, ohne aber wissenschaftlich sein zu wollen - diese erklärbarkeit projiziert es ohne unterlaß auf die bühne, in jede noch so kleine bewegung, in jeden laut. seine zutiefst rationalistische haltung verbirgt es gerne hinter einer möglichst emotionalen darstellung, die aber jeden affekt auf ein kommensurables, subjektives maß hinunterkochen muß - alles, was darüber hinausginge, gerät ihm zur besseren (d.h.: schlechteren) seifenoper. das psychologische theater ist der mehrfach verdaute rest des bürgerlichen trauerspiels, mit dem sich das geordnete bürgertum nach seinem bild menschen bauen zu können glaubt. das unerklärliche, das fremde, das unerwartbare sind ihm ein greuel - sie gelten diesem theater als fehler in der konstruktion.



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