merleau-ponty - humanismus und terror


Wenn man sagt, es gebe eine Geschichte, so will man ja sagen, daß jeder Mensch bei seinem Tun nicht nur in eigenem Namen handelt, nicht nur über sich selbst verfügt, sondern den Anderen Zwang antut und über sie verfügt, derart, daß wir vom Augenblick unserer Geburt an das Alibi der guten Absichten verlieren; wir sind, was wir den Anderen antun, wir verzichten auf das Recht, als schöne Seelen geachtet zu werden. Denjenigen achten, der die Anderen nicht achtet, heißt letzten Endes sie verachten; sich den Gewalttätigen gegenüber der Gewalt enthalten heißt sich zu ihrem Komplizen machen. Wir haben nicht die Wahl zwischen Unschuld und Gewalt, sondern zwischen verschiedenen Formen von Gewalt. Die Gewalt ist unser Los, dadurch daß wir inkarniert sind. Es gibt nicht einmal Überzeugung ohne Verführung, das heißt in letzter Konsequenz ohne Verachtung. Die Gewalt ist die allen Regimen gemeinsame Ausgangssituation. Leben, Diskussion und politische Entscheidung vollziehen sich einzig auf diesem Hintergrund. Was zählt und worüber man diskutieren muß, ist nicht die Gewalt, sondern ihr Sinn oder ihre Zukunft.






epiphäne


ich der staat, du der staat, er/sie/es der staat, wir der staat, ihr der staat, sie der staat.






solschenizyn - archipel gulag


Wir vergessen alles. Wir merken uns nicht das Gewesene, nicht die Geschichte, sondern nur das gradlinige Muster, das man unserem Gedächtnis durch stetes Hämmern einzustanzen verstand.






weil geschichte bleibt sich gleich nicht aber die welt also erzählst du die welt nicht aber die geschichte






schichten


mit der nächsten frau, wieder mehr schreiben, notierte der meister sich innerlich, während er nach dem ersten brief grub, den sie ihm auf dem kissen gelassen hatte nach einer der frühen nächte: eine halbe seite lang wiederholte sich auf dem papier der mit hellblauem filzstift ordentlich geschriebene satz, Du fehlst mir, doch alles, was er fand, war der andere letzte brief, die geschichte.






karl marx - der achtzehnte brumaire des louis napoleon


Verbindungen, deren erste Klausel die Trennung, Kämpfe, deren erstes Gesetz die Entscheidungslosigkeit ist, im Namen der Ruhe wüste, inhaltslose Agitation, im Namen der Revolution feierlichstes Predigen der Ruhe, Leidenschaften ohne Wahrheit, Wahrheiten ohne Leidenschaft, Helden ohne Heldentaten, Geschichte ohne Ereignisse; Entwicklungen, deren einzige Triebkraft der Kalender scheint, durch beständige Wiederholung derselben Spannungen und Abspannung ermüdend; Gegensätze, die sich selbst periodisch nur auf die Höhe zu treiben scheinen, um sich abzustumpfen und zusammenzufallen, ohne sich auflösen zu können; prätentiös zur Schau getragene Anstrengungen und bürgerliche Schrecken vor der Gefahr des Weltunterganges, und von den Weltrettern gleichzeitig die kleinlichsten Intrigen und Hofkomödien gespielt, die in ihrem laisser-aller weniger an den Jüngsten Tag als an die Zeiten der Fronde erinnern – [...] der Gesamtwille der Nation, sooft er im allgemeinen Wahlrecht spricht, in den verjährten Feinden der Masseninteressen seinen entsprechenden Ausdruck suchend, bis er ihn endlich in dem Eigenwillen eines Flibustiers findet. Wenn irgendein Geschichtsausschnitt grau in grau gemalt ist, so ist es dieser. Menschen und Ereignisse erscheinen als umgekehrte Schlemihle, als Schatten, denen die Körper abhanden gekommen sind.






ernst bloch - das prinzip hoffnung


Und gerade das politisch höchste Ideal: das Reich der Freiheit, als politisches Summum bonum, ist der bewußt hergestellten Geschichte so wenig fremd, daß es, als konkretes, ihre Finalität ausmacht oder das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt. Denn ein Anti-Summum-bonum oder Umsonst, die ebenso mögliche Alternative, wäre nicht das letzte Kapitel dieser Geschichte, sondern ihre Streichung, und nicht Finalität, sondern Ausgang zum Chaos. Entweder ist im Prozeß, trotz menschlicher Arbeit, Tod ohne Hinterland, oder es ist, kraft menschlicher Arbeit, Realismus des Ideals in seinem Gang – tertium non datur.






robert menasse - phänomenologie der entgeisterung


Es muß schön sein, ein lohnendes Bild, zugleich tragisch, ein Endbild, aber auch perspektivisch mit dem Fluchtpunkt im Unendlichen, das Ende darf ja nicht enden, der Begriff soll den langen komplizierten Text der bisherigen Geschichte nach einem letzten Gedankenstrich zwar abschließen, endgültig, aber danach soll kein Punkt kommen, kein Schlußpunkt, sondern endlich eine unendliche Reihe sich emphatisch aneinanderschmiegender Ausrufezeichen, alle gleich, aber doch jedes ein neues, ein Bild, das das Ganze sich einbilden kann, wodurch es, das Ganze, das längst schon verloren, nochmals verlustig gehen soll, und dadurch nach mathematischer, also kaufmännischer Logik wieder und endgültig errungen wird: indem es daran glauben muß.






max weber - wissenschaft als beruf


Aber was sonst ist Kunst als Arbeit an der Befreiung der Toten, die große Literatur ist nekrophil. Darum verläuft ihre Geschichte zyklisch und nicht in den Kategorien des Fortschritts, linear.






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im sturz die geschichte des fallens rückwärts erzählen.






betriebsfeierabend


alles, was er in die inkreislücken von handflaschengrün und vorstellungsbeinen und den seitenblicken des nichtrichtigstehens hineinsingen konnte, waren diebstahlgeschichten, fremde flüsse, auf die er die stämme seiner waldlandschaft legte, hoffend wohl, es würde stromabwärts ufernd ein schnabel auf sie warten, der ihm unter allen umständen wenigstens das holz würde erklären können. es lachte aber keiner, vielleicht nur tauschten zwei beine ihre last, schob eine hand das glas in die federn: drehbare hälse und vergessliche füße. ja, das war der acker, auf dem sie besohlt wurden, beiläufig fast, mit schmerzen jonglierend, die grazie der begnadung im knopfloch tragend. und das war vielleicht der grund dafür, daß dieser raum so sehr stank, unterflußläufig, nach beifall klappernd, die beine hebend und senkend im takt der strudelhaarschwankungen, luftkissenschlachten, zupfende zwerge, ackernah halbschlafend aneinandergekauert dicht an dicht, alte sohlenbefester, flächengrüngrinser in der zentralperspektive ihrer sehenden zunge, denn pustelgleich wucherten auf ihren mundmuskeln sehorgane, oder was man dafür hielt, wahrnehmungswarzen im ackerzwielicht, dachte er, als ihr blick auf ihn fiel.

da drehte er sich um und ging weg, daß sie käme.

doch wie fremd standen da die bäume im mondlicht, als er die landschaft verließ, stolpernd über holz, das der wein schon gefällt hatte. etwas stimmte wohl nicht mehr mit seinen augen, alles sank ineinander und blieb doch am platz: das schwarznasse gras und der schimmer der blätter im straßenlichtdampf und der löchrige himmel. immer faltiger wurde sein gesicht in der raffung des leerlaufs, ein tonloses heulen, und er dachte noch eben: schön, ja, schön, das war das mechanische zeitalter, da sprang eine saite im hinterkopf. und er drehte sich um, damit er sie sah: ein klang.

wie es scheint, vergeht die zeit immer schneller, sang er am morgen im lauwarm der dusche, oder ist es, daß die spanne zwischen grauen und blättern und fallen immer kürzer wird, größer die schwellung der zunge, die rasterfarbtöne in das handtuch spuckt? der umkreis des morgens war sonnig und kühl: das muß das altwerden sein, dachte er trocknend, das weiße tuch auf die wasserstellen legend, doch was wurde da älter: er oder sie?

später, sie trafen sich wieder im bett, als fiele der tag, ein handwarmer ring, fortwährend in sich selbst zurück (die gravitation, dachte er, ihre), würde sie sagen: wir werden nur geübter im leben üben, du übst die dinge, indem du sie faßt, dann lasse sie wieder. das ist ein einübungsleben, das nur eines nicht schafft: sich an seinem fluchtpunkt vorbeizubereiten.






frisch - mein name sei gantenbein


Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu - man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein andrer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung... [...] Es ist wie ein Sturz durch den Spiegel, mehr weiß einer nicht, wenn er wieder erwacht, ein Sturz wie durch alle Spiegel, und nachher, kurz darauf, setzt die Welt sich wieder zusammen, als wäre nichts geschehen. Es ist auch nichts geschehen.